Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1
Band 1 der "History of Middle-Earth"-Reihe Kategorie: Literatur & Comics - Autor: Christian Siegel - Datum: Dienstag, 11 Mai 2021
 
Titel: "Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1"
Originaltitel: "The Book of Lost Tales - Part 1"
Bewertung:
Autor: J.R.R. Tolkien (herausgegeben und bearbeitet von Christopher Tolkien)
Übersetzung: Hans J. Schütz
Umfang: 445 Seiten (D)
Verlag: Klett-Cotta (D), Harper Collins (E)
Veröffentlicht: 27. Oktober 1983 (E)
ISBN: 978-3-608-93861-3 (D), 978-0-2611-0222-4 (E)
Kaufen: Gebunden (D), Kindle (D), Taschenbuch (E), Kindle (E)
 

Inhalt & Review: Nach der Veröffentlichung des "Silmarillions" nach sich Christopher Tolkien noch einmal alle Unterlagen seines Vaters vor. Der erste Band der "verschollenen Geschichten", der 1983 veröffentlicht wurde, war dann schließlich das (erste) Ergebnis dieser Arbeit – und zugleich der Auftakt einer insgesamt zwölfteiligen Reihe, in dem er sich der von seinem Vater geschaffenen Mythologie im Detail widmete. Die beiden Teile von "The Book of Lost Tales" sind – im Gegensatz zu den weiteren zehn Bänden – auch hierzulande erschienen. Band eins umfasst nun insgesamt zehn Geschichten, denen neben ausführlichen Fußnoten auch immer Notizen zur Entstehung der jeweiligen Erzählung folgen – und so einen Einblick in die Arbeitsweise von J.R.R. Tolkien, und/oder die Schaffung der komplexen Mythologie rund um Mittelerde gewähren. Inhaltlich präsentiert das Buch alternative Fassungen jener Geschichten, welche die ersten Kapitel des "Silmarillions" ausmachen – mit einer bedeutenden Ausnahme: Denn wo Tolkien sich dort dann dazu entschieden hat, auf jegliche Rahmenhandlung zu verzichten, und eine Art Geschichtsbuch für Mittelerde vorzulegen, sah sein ursprünglicher Plan vor, dass die einzelnen Geschichten in einer sie umschließenden Erzählung eingebettet sind. In dieser verschlägt es den Menschen Eriol nach Tol Eressea, einer Insel, die von Elben bewohnt wird. Er ist zu dieser gereist, um mehr über die Vergangenheit der Elben, und auch von Mittelerde selbst, zu lernen – und während er auf der Insel verweilt, werden ihm nun diese einzelnen Geschichten erzählt. Ich fand es sehr interessant, diese Rahmenhandlung zu lesen, muss aber zugleich gestehen: Ich verstehe, dass Tolkien sich in weiterer Folge dazu entschlossen hat, zum komprimierten "Silmarillion" zu wechseln. Weil einerseits lenkt es einen doch ein bisschen ab (und wird man irgendwie ständig aus der Geschichte des ersten Zeitalters herausgerissen), es fügt einer ohnehin schon komplexen Geschichte eine zusätzliche (und wie man argumentieren könnte überflüssige) Ebene hinzu, vor allem aber macht es eine ohnehin schon recht umfangreiche Story noch einmal um einiges länger. Also, ja: Zumindest in diesem ersten Band war in der Rahmenhandlung rund um Eriol jetzt offen gestanden nichts, dass ich als absolut essentiell erachten würde – da es aber das einzige wirklich völlig neue Material war, fand ich es nichtsdestotrotz interessant.

Womit wir auch schon beim Haken an "Das Buch der verschollenen Geschichten" angelangt wären: Weil abseits der Rahmenhandlung sind die Erzählungen im Großen und Ganzen schon aus dem "Silmarillion" bekannt. Im Gegensatz zu dort, liegen sie hier zwar in ihrer ursprünglichen, ungekürzten und noch nicht überarbeiteten Fassung vor, was zweifellos auch einige interessante Elemente zu Tage fördert. Zugleich sind sie allerdings, da sie über mehrere Jahre hinweg entstanden sind, und die Mythologie dabei einem ständigen Wandel unterzogen war, auch nicht in sich ähnlich schlüssig, wie das eben beim "Silmarillion" der Fall war. Zumal teilweise chronologisch spätere Geschichten früher geschrieben wurden, und so weiter. Dies verstärkt auch im Vergleich zum "Silmarillion" noch einmal den Eindruck von Stückwerk, wobei zugegebenermaßen manche Geschichten stärker miteinander in Verbindung stehen, als andere. Was ich allerdings fand: Die Erzählungen selbst wirkten irgendwie "ausgefeilter". Damit meine ich, dass es sich beim "Silmarillion" teilweise um eine Wiedergabe von Fakten und Ereignisse zu handeln schien, sie hier aber eben auch wirklich wie Geschichten wirken. Das wiederum gefiel mir sehr gut, nicht zuletzt, als hierbei Tolkiens ganz eigener Schreibstil (wenn sich dieser auch natürlich im Verlauf seines Lebens gewandelt hat) besser zur Geltung kam. Aber ja, ein bisschen Geduld braucht man beim "Buch der verschollenen Geschichten" schon (aus meiner Sicht auch nochmal um einiges mehr als beim "Silmarillion") – zumal hier im Vergleich zu diesem (zumindest, sofern man sich für eine entsprechende Ausgabe entscheidet), die Illustrationen fehlen, die einerseits den Text dort immer wieder auflockerten, und andererseits mit der Bebilderung der geschilderten Ereignisse irgendwie auch beim Verständnis halfen (finde ich zumindest). Hier ist es halt wirklich reiner Text. Die Kommentare von Christopher Tolkien geben zudem einen ausführlichen Einblick in die Arbeit seines Vaters, sind aber zweifellos eher (bzw. nur) für jene relevant, die sich mindestens ebenso für die Entstehungsgeschichte der Erzählungen interessieren, als die Erzählungen selbst. Was zwar bei mir absolut der Fall war, aber nicht für jeden gelten muss und wird. Und auch, wenn man "Das Buch der verschollenen Geschichten" auch gut ohne diese Notizen lesen kann, würde ich es – da die überarbeitete, kompaktere Ausgabe der Geschichten hier ja eh schon als "Silmarillion" erhältlich ist – doch eher (nur) jenen empfehlen, die noch einmal tiefer in Tolkiens Lebenswerk eintauchen wollen. Sprich: Wer schon mit dem "Silmarillion" nicht viel anfangen konnte, ist hier wohl endgültig falsch.

Fazit: Wem – wo wie mir "Das Silmarillion", so faszinierend das Eintauchen in die Mythologie von Mittelerde dort auch war – fast ein bisschen zu sehr Geschichtstext und zu wenig Erzählung war, der bekommt mit dem "Buch der verschollenen Geschichten" alternative Texte zu manchen der dort enthaltenen Kapitel präsentiert. Der Haken daran ist allerdings, dass einerseits sie in dieser umfangreichen Form teilweise doch etwas zäh werden können, vor allem aber, dass "Das Silmarillion" die in sich schlüssigere Fassung ist, während es hier doch einige Widersprüche gibt. Etwas zwiespältig sehe ich auch die Rahmenhandlung. Auf der einen Seite war gerade diese im Vergleich zum "Silmarillion" völlig neu, andererseits ist mir auch verständlich, warum Tolkien sie später herausgestrichen hat, denn wirklich wichtiges trägt sie zur Geschichte nicht bei; vielmehr könnte man argumentieren, dass sie diese eher aufhält, bzw. von ihr ablenkt. Vor allem aber darf man nicht vergessen, dass dies teilweise die Erstentwürfe von Erzählungen waren, die in dieser Form eigentlich nie veröffentlicht werden sollten. Eben dieses frühe Stadium merkt man ihnen durchaus an. Tolkiens Fantasie und Einfallsreichtum vermögen es jedoch auch in diesen rohen Fassungen, zu begeistern. Und Christopher Tolkiens Kommentare erlauben es, die Geschichten historisch einzuordnen, und geben generell einen Einblick in das kreative Schaffen seines Vaters. Wer einfach nur die Vorgeschichte zu "Der Hobbit" und "Der Herr der Ringe" kennen will, ist zwar wohl mit "Das Silmarillion" besser bedient. Für alle, die noch tiefer in die Mythologie Mittelerdes eintauchen wollen, führt aus meiner Sicht aber kein Weg an den "verschollenen Geschichten" vorbei!

Bewertung: 3.5/5 Punkten
Christian Siegel





Artikel kommentieren
RSS Kommentare

Kommentar schreiben
  • Bitte orientiere Deinen Kommentar am Thema des Beitrages.
  • Persönliche Angriffe und/oder Diffamierungen werden gelöscht.
  • Das Benutzen der Kommentarfunktion für Werbezwecke ist nicht gestattet. Entsprechende Kommentare werden gelöscht.
  • Bei Fehleingaben lade diese Seite bitte neu, damit ein neuer Sicherheitscode generiert werden kann. Erst dann klicke bitte auf den 'Senden' Button.
  • Der vorgenannte Schritt ist nur erforderlich, wenn Sie einen falschen Sicherheitscode eingegeben haben.
Name:
eMail:
Homepage:
Titel:
BBCode:Web AddressEmail AddressBold TextItalic TextUnderlined TextQuoteCodeOpen ListList ItemClose List
Kommentar:



.