Nach längerer Pause möchte ich heute unsere lose Serie über Mangas, die auch solchen Lesern gefallen könnten, die beim Anblick riesiger, feucht glänzender Augen in spitz zulaufenden Gesichtern das kalte Grausen überkommt, mit Naoki Urasawas 22-bändiger Serie 20th Century Boys fortsetzen.
20th Century Boys ist ein SF-Mystery-Verschwörungs-Thriller. Das klingt erst einmal umständlich, doch gemeint ist jenes eigentlich jedem geläufige Genre im Grenzbereich zwischen 'normalem' Krimi und moderater Phantastik, das sich bei weiten Leserkreisen großer Beliebtheit erfreut. Die Grundidee von 20th Century Boys könnten sich Stephen King und Michael Crichton in einer gemeinsamen Brainstorming-Session ausgedacht haben: Eine Gruppe von Mittdreißigern am Rande der Midlife-Crisis muß entdecken, daß die von Monsterfilmen und SF-Comics der frühen 70er Jahre geprägten Spiele ihrer Kindheit einem unheimlichen Sektenführer als Blaupause zum Erreichen der Weltherrschaft dienen.
Die zentrale Figur der Serie, zumindest in gewissem Sinne, ist Kenji Endo. Kenji ist ein Träumer. Als Kind rettete er einen glorreichen Sommer lang mit seinen Freunden jeden Tag die Welt vor Superschurken. Später nahm die Rockmusik seine Phantasie gefangen, und der Rest seiner Jugend erschöpfte sich in erfolglosen Versuchen, mit einer eigenen Band groß rauszukommen.
Mit Mitte Dreißig ist der Möchtegern-Rockstar Inhaber eines kleinen Lebensmittelgeschäftes und Ersatzvater der kleinen Tochter seiner verschollenen älteren Schwester. Seine alten Feunde, die großen Weltenretter von einst, leben als kleine Angestellte oder Ladenbesitzer größtenteils ähnlich unspektakuläre Leben. Doch als eines Tages einer von ihnen unter verdächtigen Umständen Selbstmord begeht und kurz darauf ein Symbol aus ihren Kindertagen wieder auftaucht, beginnen sie zu ahnen, daß sich etwas Furchtbares anbahnt – und sie womöglich die Einzigen sind, die es aufhalten können.
Urasawa verwebt gekonnt nostalgische Rückblicke in die frühen Siebziger mit einem immer mehr an Dramatik zunehmenden Plot um eine wahnwitzige Verschwörung. Dabei spielt er nicht ohne Ironie, aber doch mit großem Respekt für die Träume seiner unwahrscheinlichen Helden mit den Bildern, die die Populärkultur in unserem Unterbewußten nährt. Was, so fragt Urasawa mit 20th Century Boys, wenn du wirklich eines Tages ein Superheld sein müßtest – lange, nachdem du aufgehört hast, an Superhelden zu glauben? Was, wenn du wirklich die Welt retten müßtest?
Die Helden von 20th Century Boys wachsen im Laufe der Jahre und Jahrzehnte, über die sich die immer mehr ausufernden Geschichte erstreckt, in ihre nur widerstrebend angenommene Heldenrolle hinein und bleiben dabei dennoch von rührender Durchschnittlichkeit. Selbst jene unter ihnen, die in gewissen Bereichen ungewöhnliche Fähigkeiten haben – natürlich gibt es die obligatorischen Kampfkunst-Meister sowie eine junge Frau mit übersinnlichen Fähigkeiten unter ihnen – wirken selten wirklich wie Superhelden. Dabei beginnt die Welt, in der sie leben, immer mehr einem Comic zu gleichen. Urasawa gönnt seinen Helden wenig Erfolge, und so ist der Kampf gegen den „Freund“, den geheimnisvollen Sektenführer, der sich die Welt mittels biologischer und psychologischer Kriegsführung untertan machen will, vor allem eine lange Reihe von Niederlagen, aus denen der „Freund“ ausnahmslos gestärkt hervorgeht. Und je näher der Wahnsinnige seinem Ziel kommt, desto mehr verwandelt er die ganze Welt in ein ins Megalomane gesteigertes – oder vielmehr: in seiner inhärenten Megalomanie tödlich ernst genommenes – Kinderspiel. Der „Freund“ wird so in durchaus absichtsvoller Ironie zum Erfüllungsgehilfen der wohlmeinenden Weltretter: nur durch ihn und seine Taten werden sie gezwungen, auch in der Realität zu jenen Helden zu werden, die sie einst in ihren Träumen waren.
Die Themen, die Urasawas Manga durchziehen, sind die Macht populärer Mythen, das Glück (und Leid) eines von Abenteuern auf einem brachliegenden Grundstück erfüllten Kindheitssommers, das Erwachsenwerden, der Verrat, den wir an unseren Träumen begehen und die Kraft, die ihnen trotz allem innewohnt sowie die Frage, was es bedeutet, ein Held zu sein. Je weiter die Geschichte fortschreitet, desto „unrealistischer“ und „comichafter“ wird sie – doch Realismus ist auch gar nicht Urasawas Ziel. Der Wahnsinn hat in 20th Century Boys Methode: Es geht darum, wie aus banalen Quellen gespeiste Träume die Welt nach ihrem Bilde formen.
Der Zeichenstil von 20th Century Boys ist größtenteils realistisch, teilweise auch karikaturhaft, jedenfalls aber nicht von den visuellen Klischees bestimmt, die so viele potentielle Leser hierzulande vom Mangalesen abschrecken. Zwar gibt es bei vereinzelten weiblichen Figuren in der Größe leicht überdurchschnittliche Augen, doch im großen und ganzen sehen die Figuren recht realistisch aus; süßebedingte Zahnschmerzen bekommt man hier nicht. Die Tatsache, daß die meisten der Protagonisten Männer im mittleren, später auch deutlich fortgeschrittenen Alter sind, trägt das Ihrige dazu bei.
Das Erzähltempo der ersten paar Bände ist noch relativ langsam, doch die Serie gewinnt schon bald an Tempo und Spannung und Urasawa zaubert einige recht schockierende erzähltechnische Überraschungen für den Leser aus dem Ärmel. Er springt virtuos zwischen Zeiten und Protagonisten. Trotz allem behält er aber stets alle Fäden in der Hand und verwebt die verschiedenen Schicksale und Zeitebenen zu einem kohärenten Ganzen.
Zuguterletzt verdient noch die Übersetzung Erwähnung. Diese fällt durch eine recht große Stilsicherheit, den gekonnten Einsatz verschiedener sprachlicher Register und eine erfreulich geringe Anzahl von Grammatik- und sonstigen Fehlern auf. Dies alles sollte zwar eigentlich selbstverständlich sein, ist aber leider selbst bei anspruchsvolleren Mangas in Deutschland nicht immer gegeben und verdient daher ausdrückliches Lob.
Seite des japanischen Verlags, mit vielen farbigen Illustrationen (Icons auf der rechten Seite der Seite anklicken!)
Nächstes Jahr gibt es - zumindest in Japan - einen Film zum Comic. Live action, nicht Anime.
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