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Alasdair Grays Variation von "Frankenstein" Kategorie: Literatur & Comics - Autor: Christian Siegel - Datum: Freitag, 26 Januar 2024
 
Titel: "Poor Things"
Originaltitel: "Poor Things"
Bewertung:
Autor: Alasdair Gray
Übersetzung: -
Umfang: 336 Seiten
Verlag: Bloomsbury Publishing (E)
Veröffentlicht: 1992 (E)
ISBN: 978-0-747-56228-3 (E)
Kaufen: Taschenbuch (E), Kindle (E)
 

Kurzinhalt: In den 1980ern fällt dem Autor Alasdair Gray zufällig das Tagebuch eines schottischen Arztes, Archibald McCandless, in die Hände. Darin schildert dieser gar unglaubliches über seine Bekanntschaft zuerst mit dem umstritten-exzentrischen Wissenschaftler Godwin Baxter, sowie dessen "Tochter" Bella. Diese soll nämlich von ihm, nachdem ihre Leiche ans Ufer der Themse gespült wurde, wiederbelebt worden sein. Während sie den Körper einer Frau Mitte Zwanzig besitzt, ist sie geistig noch ein Kind – entwickelt sich jedoch rasch weiter. Als sich Archibald und Bella ineinander verlieben, ist Godwin zuerst außer sich, und verlangt von den beiden, sich zwei Wochen Zeit zu lassen, ehe sie weitere Schritte unternehmen. In dieser Zeit lernt Bella den Casanova Duncan Wedderburn kennen – und brennt mit ihm durch. Ihre Briefe an Godwin sind Teil von Archibalds Tagebuch, und erzählen von ihren Abenteuern. Doch entspricht das Tagebuch von McCandless auch wirklich der Wahrheit, oder hat er hier vielmehr Seemannsgarn gesponnen? Ein Brief von Bella an ihre Enkelkinder zieht die Schilderungen von Archibald ernstlich in Zweifel, Alasdair Gray präsentiert in "Poor Things" beide Versionen der Geschichte – und überlässt es dem geneigten Leser, zu entscheiden, welche davon der Wahrheit entspricht…

Review: Vorab: Wenn man so wie ich zuerst einen Film sieht und erst danach jenen Roman liest, auf dem dieser basiert, stellt man natürlich unweigerlich den Vergleich quasi in die falsche Richtung an (weil in Wahrheit war ja das Buch davor da). Auch ich kam natürlich nicht umhin, beim Lesen des Buchs unweigerlich Vergleiche mit dem Film anzustellen; umso mehr, als meine Begeisterung für eben diesen der Hauptgrund war, dass ich es mir überhaupt bestellt habe (und das de facto noch auf dem Weg aus dem Kinosaal heraus). Das Buch unterscheidet sich jedoch ziemlich stark von der filmischen Umsetzung. So folgt Alasdair Gray hier dem Konzept von beispielsweise Bram Stokers "Dracula", welches Tagebücher, Logbücher, Briefe usw. beinhaltete, und eine vermeintlich wahre Geschichte erzählte (falls es, analog zum filmischen "Found Footage", einen Begriff für diese Art von Literatur gibt, ist er mir a) nicht (mehr?) geläufig, und habe ich b) bei einer kurzen Internet-Recherche auch nichts gefunden; gerne lasse ich mich von euch in den Kommentaren erhellen). Auch Alasdair Gray präsentiert hier verschiedene Tagebücher, Briefe, Artikel aus der Zeit und so weiter, die angeblich authentisch sein sollen – und die sich teilweise auch widersprechen. Letzteres gilt insbesondere für einen ganz essentiellen Punkt: Denn der Brief von Bella Baxter an ihre Enkelkinder, den sie geschrieben hat, als sie im Nachlass ihres verstorbenen Ehemanns auf sein Tagebuch stolperte, zieht die darin erzählte Geschichte ihrer makaberen Wiederbelebung ernstlich in Zweifel, als sie eine deutlich bodenständigere und somit auch plausibler klingende Version der Ereignisse erzählt. Welcher Schilderung man denn nun glauben schenkt, bleibt letztendlich den Leser:innen überlassen – wobei der Autopsiebericht zu Bella Baxter, der "Poor Things" abschließt, all jenen, die der fantastischen Erzählung von McCandless lieber glauben wollen als Bellas nüchterner Variante, nochmal einen kleinen Hoffnungsschimmer-Happen zuwirft.

Besagter Aufbau ist zwar grundsätzlich sehr interessant, im Vergleich zum Film gelang es "Poor Things" von Alasdair Gray aber halt leider nur auf intellektueller, nicht jedoch emotionaler Ebene, mich mitzureißen. Dafür waren die Schilderungen hier zu nüchtern, und die Aufrollung von Bellas Leben auch zu zerfahren. So ziemlich mein größter Kritikpunkt an "Poor Things" und zugleich jener Aspekt, bei dem sich das den Roman adaptierende Drehbuch von Tony McNamara am meisten hervortut, ist allerdings, wie die eigentliche Hauptperson Bella Baxter in den Hintergrund gedrängt wird. Dass ihre Geschichte bis auf wenige Ausnahmen nur von anderen erzählt wird, ist schon ein erhebliches Manko – und war nicht zuletzt auch der emotionalen Bindung zu ihr nicht gerade förderlich. Generell muss ich sagen, dass ich die (wenn auch zweifellos gewöhnlichere) Erzählweise des Films – wo wir einerseits auch wirklich mittendrin in der Geschichte sind, und sie unmittelbar erleben, vor allem aber an Bellas so interessanter wie triumphaler Charakterentwicklung direkt beiwohnen können – gegenüber dem Roman doch sehr deutlich vorziehe. Dieser ist auch deutlich feministischer geprägt, während das Buch wiederum stärker in eine – grundsätzlich ebenfalls nicht uninteressante – sozialpolitische Richtung geht. In jedem Fall fand ich aber den Vergleich zwischen Vorlage und Umsetzung – auch wenn er wie gesagt genau genommen in die falsche Richtung vollzogen wurde – sehr spannend, und konnte "Poor Things" auch daraus einiges an Reiz ziehen. An die Filmadaption kommt Alasdair Grays Romanvorlage in meinen Augen aber nicht heran.

Fazit: Möglicherweise würde meine Meinung enthusiastische ausfallen, hätte ich das Buch gelesen, bevor ich den Film gesehen hatte, aber so war Alasdair Grays historischer Fantasy-Roman doch ein bisschen ernüchternd. Zwar fand ich die hier gewählte Erzählweise – ein Abdruck fiktiver Tagebücher, Briefe, Zeitungsartikel und anderer Dokumente – zwar keinesfalls uninteressant, allerdings war ich im Film stärker in der Geschichte drin, und fühlte mich auch den Figuren, und hier insbesondere Bella Baxter, mehr verbunden. Wie ich es generell sehr kritisch sehe, dass ein Großteil der Geschichte, die sich ja in erster Linie um sie dreht, aus der Perspektive von anderen erzählt wird; Bella selbst kommt nur sehr sporadisch zu Wort. All dies soll jedoch nicht heißen, dass mir "Poor Things" in dieser Form so überhaupt nicht gefallen konnte; der Roman kam für mich aber halt nur an den Film nicht heran. Dennoch erzählt er eine faszinierende Geschichte auf interessante Art und Weise, und gefällt mir nicht zuletzt, dass es letztendlich dem Leser/der Leserin überlassen ist, für welche Interpretation er/sie sich entscheidet. Im Vergleich zum Film ist der Roman in meinen Augen aber halt eher auf intellektueller denn auf emotionaler Ebene ansprechend.

Bewertung: 3.5/5 Punkten
Christian Siegel
(Cover © 2023 Bloomsbury Publishing)





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