Inhalt & Review:
Fast fünfzig Jahre nach dem Tod von J.R.R. Tolkien – und über zwanzig Jahre, seitdem die (überwiegend) gefeierte Verfilmung von Peter Jackson ihre Premiere feierte –ist die Faszination der von ihm geschaffenen Welt von Mittelerde, und insbesondere seine Erzählungen "Das Silmarillion", "Der Hobbit" und nicht zuletzt "Der Herr der Ringe", ungebrochen. Tatsächlich dürfte diese vielmehr aufgrund der anstehenden Amazon-Serie "The Rings of Power" (zusammen mit dem Animationsprojekt "War of the Rohirrim") vielmehr neu entfacht werden. Der ideale Zeitpunkt also, um sich mit der neuen Veröffentlichung "Natur und Wesen von Mittelerde" mit der von Tolkien geschaffenen, umfassenden Mythologie zu seiner Welt auseinanderzusetzen. Das Buch, herausgegeben von Carl F. Hoestetter, versteht sich dabei zwar als eigenständiges Werk, kann aber durchaus als Begleitwerk und/oder Fortsetzung zu Christopher Tolkiens "History of Middle-Earth"-Reihe verstanden werden. Im Gegensatz zu dieser, wo man zumindest für die Bände 3-12, nach wie vor auf eine deutsche Übersetzung wartet, wurde "The Nature of Middle-Earth" praktisch zeitgleich auch hierzulande in einer Übersetzung von Helmut W. Pesch – der zuvor auch schon für die deutschen Fassungen der drei großen verlorenen Geschichten "Die Kinder Hurins", "Beren und Luthien" sowie "Der Fall von Gondolin" verantwortlich war – und Susanne Held veröffentlicht. Dies ist grundsätzlich zweifellos erfreulich; leider aber finde ich, dass sich "Natur und Wesen von Mittelerde" mit den besseren Bänden des Quasi-Vorgängers nicht wirklich messen kann, und hatte das Ganze auf mich generell ein bisschen den Eindruck der Resteverwertung.
Nun mag dies daran liegen, dass ich bei der "History of Middle-Earth" schon immer jene Teile, die sich auf die Entwicklung der Geschichten konzentrierten, am besten fand. Sei es nun die ersten Fassungen jener Erzählungen, die in weiterer Folge das Silmarillion bilden sollten, oder eben die Entstehung von "Der Herr der Ringe". Natürlich ist die weitreichende und detaillierte Mythologie, die Tolkien rund um dieses Epos geschaffen hat, ein ganz wesentlicher Bestandteil von diesem, und zweifellos einer der Hauptgründe, warum Mittelerde bis heute so viele Leute auf der ganzen Welt fasziniert. Man spürt bei den Romanen einfach auf jeder Seite, wie viel Geschichte und wie viel Überlegung dahinter steckt. Und so hat man letztendlich immer den Eindruck, nur an der Oberfläche zu kratzen, bzw. dass hinter der Geschichte noch eine viel größere, faszinierende Welt steckt. Doch so sehr dieser Eindruck für mich "Der Herr der Ringe" auch auszeichnen und aufwerten mag, so ist es letztendlich eben doch in erster Linie die Story an sich, die mich in ihren Bann zog. Das gleiche gilt für "Der Hobbit", "Das Silmarillion", oder auch die drei "verlorenen Geschichten". Viele Bände von "The History of Middle-Earth" waren vornehmlich mit der Ausarbeitung und Entwicklung eben dieser Geschichten befasst. Hier hingegen geht es doch eher um Überlegungen rund um die "Mechaniken" dieser Welt. Dementsprechend finden sich hier unzählige, teilweise nur sehr lose miteinander verbundene Essays von unterschiedlicher Länge, die sich teilweise auch widersprechen, bzw. Tolkien selbst im Zuge des Schreibens einzelne Überlegungen sogleich auch wieder verwirft.
Die Themengebiete sind ebenfalls sehr weitschweifig, wobei es doch einige Kapitel gab, die mich eher nur sehr rudimentär interessierten. Hier sind nicht zuletzt die ganzen stark mathematisch geprägten Essays zu nennen, wie z.B. rund um die Berechnung der valischen Jahre, der Umrechnung der Lebensjahre der Numenorier, das Alter der Elben im Vergleich zu Menschen, die Vermehrung der Quendi, und so weiter. Es mag Leute geben, die das ungemein spannend finden – ich zähle leider nicht dazu. Andere Dinge, die sich stärker mit dem Wesen der Völker von Mittelerde – oder auch einzelnen Figuren – auseinandersetzen, fand ich im Vergleich dazu zwar schon deutlich interessanter, an die spannenden Kapitel aus der "History of Middle-Earth" zur Entwicklung der Geschichte kamen aber selbst diese Teile nicht heran. Letztendlich gab es nur wenige Kapitel, die mich wirklich faszinieren konnten. Hier ist insbesondere "Beschreibung handelnder Personen" zu nennen, wo wir erfahren, wie sich Tolkien einige der Hauptfiguren aus "Der Herr der Ringe" vorgestellt hat. Diesen kurzen Einblick fand ich wirklich wunderbar. Und auch sonst waren teilweise immer wieder mal interessante Details enthalten. Insgesamt finde ich aber, dass "Natur und Wesen von Mittelerde" dem Durchschnitt aller Bände der "History of Middle-Earth"-Reihe recht deutlich unterlegen ist.
Fazit:
"Natur und Wesen von Mittelerde" kann als Erweiterung/Fortsetzung zu Christopher Tolkiens zwölfbändigen Reihe "The History of Middle-Earth" betrachtet werden. Als solche finde ich allerdings leider, dass sie der Qualität des letzten Teils, "The Peoples of Middle-Earth", am nächsten kommt. Denn schon dieser hat sich stärker mit einzelnen Texten zu den Wesen und Völkern Mittelerdes auseinandergesetzt. Ich hingegen fand gerade jene Teile der Reihe, die uns einen Einblick in frühe Entwürfe der Geschichten, bzw. in die Entwicklung der Erzählungen wie dem Silmarillion oder "Der Herr der Ringe" boten, ganz besonders faszinierend. Eben dieser Aspekt fehlt hier de facto völlig. Damit ist "Natur und Wesen von Mittelerde" in erster Linie etwas für jene, die von Tolkiens geschaffener Welt nicht genug bekommen können, und jeden kleinsten Text, jede Überlegung die er zu Mittelerde angestellt hat, kennen wollen. Ich hingegen habe vieles mit eher nur verhaltenem Interesse überflogen, und fühlte mich vom Inhalt nur sporadisch angesprochen, wie z.B. bei der Beschreibung einzelner Hauptfiguren aus "Der Herr der Ringe". Trotzdem hoffe ich, dass "Natur und Wesen von Mittelerde" hierzulande ausreichend erfolgreich sein wird, um den Klett Cotta-Verlag zu animieren, die – in meinen Augen überwiegend besseren – ausständigen Bände der "History of Middle-Earth"-Reihe im deutschsprachigen Raum zu veröffentlichen.
Bewertung: 2.5/5 Punkten
Christian Siegel
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