Kurzinhalt:
Der erste dunkle Lord, Morgoth, beginnt zum Ende des ersten Zeitalters vom Norden Mittelerdes aus seinen Feldzug gegen die von ihm verhassten Elben. Húrin, der einst die verborgene elbische Stadt Gondolin fand, und ein Jahr unter ihnen verbrachte, führt eine Streitmacht der Menschen an, um den Elben bei der Verteidigung ihrer Städte zu helfen. Doch bei der Schlacht der unzählbaren Tränen wird er besiegt und von Morgoth gefangen genommen. Dieser tötet jedoch seinen Feind nicht, sondern verbannt ihn vielmehr auf einen Stuhl, von dem aus er die Welt bis hin zu seiner Heimat überblicken kann. In den folgenden Jahren wird Morgoth Húrin das tragische Leben seiner Kinder zeigen, insbesondere von seinem erstgeborenen Sohn Túrin, der Zeit seines Lebens gegen dunkle Mächte sowohl in der Welt als auch in seinem inneren kämpft. Aber auch seine zweite Tochter Nienor erwartet, nachdem ihre Schwester Lalaith noch vor ihrer Geburt als junges Mädchen verstarb, ein düsteres Schicksal – bei dem Morgoth und sein finsterer Diener, der Drache Glaurung, ihre Finger im Spiel haben…
Review:
Eigentlich hatte ich ja vor, mich direkt nach "Der Hobbit" und "Der Herr der Ringe" auf das Silmarillion zu stürzen, aber angesichts der bevorstehenden Neuauflage im März habe ich nun doch beschlossen, auf diese zu warten, und die drei "Great Tales" vorzuziehen. Die Ereignisse daraus sind, soweit ich das bislang erfassen konnte, ja im "Silmarillion" zu finden (und wurden teilweise auch schon in den Anhängen erwähnt), und dürften in den "Unfinished Tales" noch einmal in bereits erweiterter Form vorliegen. Für die drei Einzelveröffentlichungen der sogenannten "Great Tales", mit denen man 2006 mit "Die Kinder Húrins" begann, und dem 2018 mit "Der Fall Gondolins" der Abschluss folgte, hat Christopher Tolkien jedoch noch einmal in den Aufzeichnungen seines Vaters gestöbert, neue Notizen und Manuskripte gefunden, und diese schließlich vervollständigt, so dass sie hier nun als eigenständige Geschichten vorliegen. Wichtig ist dabei: Im Gegensatz zum Silmarillion, dass "Der Herr der Ringe" was Tiefe betrifft wohl noch übertreffen dürfte, handelt es sich hier um vergleichsweise kurze und schlichte, auf wenige Figuren fokussierte, Novellen. Ein ähnliches Epos wie "Der Herr der Ringe" darf man sich hier somit – no na – nicht erwarten. Ich fand zudem, dass die Geschichte auch sprachlich nur sporadisch mit Tolkiens Magnus Opus mithalten kann. Insofern: Ein bisschen Abstriche muss man aus meiner Sicht schon machen, wenn man so wie ich unmittelbar davor den unvergleichlichen "Herr der Ringe" gelesen hat, und sich nun auf diese kürzeren, schlichteren Geschichten aus dem ersten Zeitalter stürzt.
Gelingt es einem jedoch, sich darauf einzulassen (und ich gebe zu, ich habe ein paar Kapitel gebraucht, bis ich mit "Die Kinder Húrins" so richtig warm wurde), offenbart sich die erste der "Great Tales" als tragische Geschichte eines Helden, der – so sehe ich es zumindest – letztendlich an sich selbst scheiterte. Natürlich spielten auch Morgoth und Glaurung bei seinem Untergang eine wesentliche Rolle; insbesondere letzterer, der dafür sorgte, dass seine Schwester Nienor ihr Gedächtnis verlor, und im nachfolgenden Nebel sich dann schließlich in ihn verliebte; eine tragische Romanze, die von vornherein zum Scheitern verurteilt war, und wesentlich zum düsteren Ausgang des Geschehens beitrug. Und doch hat Túrin mehrere Gelegenheiten in seinem Leben verpasst, um von diesem düsteren Pfad, der dann schließlich auch das Schicksal sowohl von ihm als auch seiner Schwester besiegelte, abzuweichen. Doch sein Stolz, sein Zorn und seine Impulsivität standen ihm hier wieder und wieder im Weg. Er bemüht sich redlich, einen tugendhaften Pfad einzuschlagen, und gelegentlich gelingt es ihm auch, zumindest für kurze Zeit. Letztendlich ist er jedoch dazu verdammt, die selben Fehler immer wieder zu wiederholen. Seine Schwester ist zwar wesentlich stärker ein Opfer ihres Schicksals, nicht aufgrund der Einflussnahme durch Glaurung, der den Verlauf ihres Lebens entscheidend beeinflusste. Und doch teilt sie zumindest ansatzweise die Schwächen ihres Bruders. Denn auch sie entscheidet sich aus freien Stücken, ihre Mutter zu begleiten, und später dann, nicht einfach zu Hause zu sitzen und auf Túrins Rückkehr zu warten, sondern ihm ins Verderben zu folgen.
Es erinnert ein bisschen an Sams Satz aus Peter Jacksons Verfilmung: "Die Leute in diesen Geschichten hatten stets die Gelegenheit umzukehren, nur taten sie's nicht." Bei ihm haben diese Worte eine heldenhafte Bedeutung; im Hinblick auf "Die Kinder Húrins" bietet sich jedoch eine andere, deutlich düstere Interpretation an, nämlich eine Kritik an der ja leider auch im wirklichen Leben immer wieder zu beobachtenden Tendenz, dass wir teilweise Verhaltensmuster, auch wenn sie in der Vergangenheit schon nicht funktioniert und im schlimmsten Fall zu tragischen Konsequenzen geführt haben, trotzdem immer wieder wiederholen – im Irrglauben, diesmal könnte es anders ausgehen. In eben diesem Teufelskreis sind Túrin und – wenn auch in geringerem Ausmaß – Nienor gefangen. Eben dies ist für mich dann letztendlich auch der größte, wesentlichste und interessanteste Unterschied zwischen "Der Herr der Ringe" und "Die Kinder Húrins". Ersteres ist ein Epos über den heldenhaften, aufopfernden und letztendlich entscheidenden Einsatz ein paar heldenhafter Figuren, die sich in einem Kampf David gegen Goliath gegen das von außen kommende Böse stemmen, welches droht, die Welt zu verschlingen. Letzteres hingegen eine Geschichte über das Böse, dass in unserem Inneren schlummert; und wenn man nach dem unterschiedlichen Ausgang beider Erzählungen geht, könnte man meinen, dass Tolkien letzteres als wesentlich schwerer zu besiegen hält. Und eben darin, der daraus resultierenden deutlich düsteren Geschichte, und dem fast schon unweigerlichen tragischen Ausgang, sehe ich auch die größte Stärke von "Die Kinder Húrins" – welche die Erzählung, trotz aller Aspekte, in denen sie nicht mit "Der Herr der Ringe" mithalten können mag, für mich doch zu einer echten Bereicherung der Mythologie Mittelerdes macht.
Fazit:
Von einer vergleichsweise kurzen Novelle darf man sich natürlich keine ähnlich epische Geschichte wie "Der Herr der Ringe" erwarten; und selbst "Der Hobbit" bietet rein was Abenteuer, faszinierende Begegnungen und die Fülle an Charakteren die man trifft sicherlich mehr. Und dennoch hatte es mir diese erste der drei großen Geschichten aus dem ersten Zeitalter Mittelerdes sehr angetan. Dies liegt nicht zuletzt am düsteren Verlauf, den die Geschichte nimmt, sowie der so interessanten wie tragischen Hauptfigur Túrin. Wieder und wieder bekommt er die Gelegenheit, seinem Schicksal zu entkommen – jedoch gelingt es ihm jeweils nicht, wider seine Natur zu handeln. Und so wähnt man sich als Leser ein bisschen wie Húrin, der hilflos mitansehen muss, wie Túrin und seine Schwester Nienor ins Verderben laufen. Eben darin liegt für mich letztendlich der größte Reiz des Romans. Aufgewertet wird dieser zusätzlich von Alan Lees wieder einmal wunderschönen Illustrationen. Und generell fand ich diesen Einblick in die Vergangenheit Mittelerdes sehr interessant. Dafür muss man allerdings neben der Anzahl an Figuren und der Tiefe und Komplexität der Geschichte insbesondere sprachlich im Vergleich zu "Der Herr der Ringe" doch ein paar Abstriche machen. Teilweise erinnert das mehr an eine wenig ausformulierte Wiedergabe der Geschichte (im Sinne von: Vergangenheit). Den Inhalt mag Tolkien soweit ausgearbeitet haben, aber man kann sich sicher sein, dass sich schriftstellerisch hier bis zur Veröffentlichung noch viel getan hätte. Trotz dieses nicht unwesentlichen Mankos stellt "Die Kinder Húrins" in meinen Augen für alle Fans von J.R.R. Tolkien und/oder Mittelerde ein Pflichtprogramm dar!
Bewertung: 4.5/5 Punkten
Christian Siegel
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