Kurzinhalt:
Der junge Wehrmachtssoldat Walter Proska befindet sich im letzten Kriegssommer 1944 auf dem Weg zurück an die Ostfront. Im Zug begegnet er der polnischen Partisanin Wanda und verliebt sich in sie. Als der Zug auf eine Mine aufläuft und entgleist, wird er von einem Trupp deutscher Soldaten unter dem Kommando des sadistischen Unteroffiziers Willi Stehauf aufgegriffen, die auf einem einsamen Wachposten die Stellung halten. Er beginnt, den Sinn des Krieges und sein Pflichtgefühl zu hinterfragen. Während sein Kamerad Wolfgang zur Roten Armee desertiert, kehrt Walter zum Stützpunkt zurück und gerät in russische Kriegsgefangenschaft. Dort trifft er erneut auf Wolfgang und läuft schließlich ebenfalls über. Er begegnet auch Wanda wieder und beschließt zu fliehen…
Review:
Bei "Der Überläufer" handelt es sich - obwohl erst 2016 und posthum veröffentlicht - um Siegfried Lenz' zweiten Roman. Er verfasste ihn bereits 1951, fand damals jedoch keinen Verlag und ließ ihn in einer Schublade verschwinden. Als der Roman 65 Jahre später und rund 1 1/2 Jahre nach Lenz' Tod doch noch publiziert wurde, war er eine kleine Sensation und führte 5 Wochen lang die Liste der meistverkauften Belletristikbücher in Deutschland an. Das Erste erkannte das Potenzial des Stoffes und beauftragte den Regisseur Florian Gallenberger, der 2015 mit dem Thriller "Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück" einigen internationalen Ruhm einheimsen konnte, mit der Verfilmung, die am 8. und 10. April 2020 schließlich ihre TV-Premiere feierte und jetzt auch als DVD und Blu-ray fürs Heimkino erhältlich ist.
Ich möchte nicht lange darauf herumreiten, wie unglaubwürdig manche Handlungsabläufe letztendlich doch sind. Ein paar Beispiele: Nachdem Wanda den Zug verlassen und Walter danach noch eine erhebliche Strecke zurückgelegt hat, läuft sie ihm irgendwo im Niemandsland plötzlich wieder über den Weg! Kurz darauf nickt er an einen Baum gelehnt ein und wacht auf, als wer ihm eine Knarre an die Schläfe hält? Genau, Wanda! Und nachdem er zur Roten Armee übergelaufen ist, die Kriegsgefangenschaft überwunden hat und an einer Feier in der russischen Kommandantur teilnimmt, tritt ausgerechnet dort - natürlich - Wanda als Sängerin auf! Apropos Kriegsgefangenschaft: Lange Zeit hat Walter dort gelitten, und just in dem Moment, wo ihm der Garaus gemacht werden soll, taucht sein früherer Kamerad Wolfgang auf und rettet ihn, indem er ein gutes Wort für ihn einlegt. Das nenne ich eine Deus Ex Machina! Dass Walter später mit den Rotarmisten noch am Hof seiner Schwester und seines Schwagers vorbeischaut, weil dieser zufällig auf dem Weg liegt, sei das letzte Beispiel. Indem der Film diesen Handlungen folgt, folgt er zwar seiner literarischen Vorlage, jedoch sind das alles äußerst, wirklich sehr äußerst glückliche Fügungen, die mir als Zuschauer leicht sauer aufstoßen.
Die Vorzüge und Stärken des Films überwiegen jedoch. Es gibt viele Beiträge, die sich einzelnen Kapiteln des 2. Weltkrieges widmen, doch "Der Überläufer" fängt die Stimmung der letzten verzweifelten und hoffnungslosen Züge grandios ein, indem er einsame Schlachtfelder zeigt und das Schicksal einzelner Menschen in den Mittelpunkt stellt, die sich fragen, was angesichts des Krieges noch richtig und falsch ist und welchen Sinn ihr Kampf überhaupt noch ergibt. Was ist Illusion, was ist Wahrheit? Was ist Identität? Diese Fragestellungen bewegen auch den Zuschauer während des gesamten Geschehens, und damit zieht der Film hinein und fesselt. Anhand diverser Figurenbeispiele wie dem Kochartisten Ferdinand, dem wahnsinnigen Zwiczos oder dem zynischen Unteroffizier Wilhelm Stehauf - jeweils im Gegensatz zu Walter - bietet er Denkansätze und wirft die Frage auf, wo denn unser Platz in diesem Szenario wäre. Das letzte Viertel des Films, das schließlich nach dem Krieg und in den ersten Jahren des Wiederaufbaus Berlins spielt, treibt diese Suche anhand der Figuren Walter und Wolfgang auf die Spitze. Mittlerweile ist Walter jedoch spürbar gereift und trifft in diesem Szenario erstmals freie Entscheidungen unabhängig von Loyalitäten, aber treu seinem Gewissen.
Fazit:
"Der Überläufer" ist ein mitreißendes menschliches Drama und zugleich eine interessante Dokumentation der Schlussphase des 2. Weltkrieges, in der einzelne Soldaten desillusioniert und allen Durchhalteparolen zum Trotz nur noch das rasche Ende der Kämpfe herbeisehnen. In diesem Szenario geht es um essenzielle Fragen nach dem Sinn, nach Loyalität und Pflichtbewusstsein und dem Gewissen, die jedem Einzelnen Entscheidungen abringen. Packend inszeniert und hervorragend gespielt ist "Der Überläufer" sehenswert, auch wenn einige Handlungsabläufe (s.o.) nicht immer stringent sind.