Kurzinhalt:
Moist von Lipwick hält sich mit kleineren und größeren Gaunereien über Wasser – bis zu jenem Tag, als er während seines jüngsten Coups in Ankh-Morpork geschnappt und ins Gefängnis gesperrt wird. Wenige Monate später wartet auf ihn der Galgen – doch statt im Jenseits landet er vielmehr im Büro von Lord Vetinari. Dieser macht ihm ein Angebot, dass er nur schwer ausschlagen kann: Entweder er kehrt zum Galgen zurück, oder aber er übernimmt das Postamt von Ankh-Morpork, und arbeitet daran, dieses wieder zu alter Größe zu führen. Bei diesen Auswahlmöglichkeiten entscheidet sich Moist verständlicherweise für letzteres – beginnt jedoch zunehmend, es zu bereuen. So wurde schon seit Jahrzehnten keine Briefe mehr ausgeliefert, weshalb sich diese im Postamt regelrecht stapeln. Zudem erfährt er, dass die letzten Postmeister allesamt plötzliche Unfälle erlitten haben. Schon bald hat er Reacher Gilt in Verdacht, mit eben diesen etwas zu tun zu haben. In diesem erkennt er einen ebensolchen Gauner, wie von Lipwig selbst einer ist. Gilt ist Geschäftsführer der Semaphorgesellschaft, die für die Klacker – so eine Art Telegramme – zuständig ist, welche die Post in den letzten Jahren zunehmend abgelöst haben. Aufgrund seiner Sparsamkeit kommt es jedoch immer wieder zu Ausfällen des Netzwerks, sowie zu Todesfällen unter den Arbeitern. Nach einem längeren Hickhack schlägt Moist von Lipwick seinem Konkurrenten schließlich eine Wette vor – ohne auch nur eine Ahnung zu haben, wie er diese gewinnen soll…
Review:
Neben seinem tollen Wortwitz, seinem unvergleichlichen Einfallsreichtum und seiner bissigen Prosa werde ich an Terry Pratchett vor allem eins vermissen: Seine Fähigkeit, immer wieder neue, interessante Figuren aus seinem Hut zu zaubern. Neben vielen anderen Neuzugängen wie z.B. der wundervollen Adora Belle Dearheart, stach dabei für mich natürlich in erster Linie Moist von Lipwig hervor. Wir hatten bei der Scheibenwelt nun schon Zauberer, Hexen, Wachmänner, Assassinen, Schauspieler, und noch so manche mehr… aber mit einem Gauner haben wir bislang noch kein Abenteuer bestritten. Moist erwies sich dabei rasch für mich als einer der interessantesten der jüngeren Neuzugänge im ständig größer werdenden Ensemble der Scheibenwelt. Auf der einen Seite kommt man nicht umhin, ihn trotz seiner Berufswahl sympathisch zu finden. Zugleich ist er aber dennoch eine ansatzweise zwielichtige Figur, bei der es Pratchett weder ihr noch uns Lesern erspart, die Vergangenheit näher zu beleuchten. Von Lipwig sah es bisher als eine Art Sport an, und ging davon aus, dass er damit ja nicht wirklich jemandem geschadet hat. Diesem Irrglauben schiebt der als sein Bewährungshelfer fungierende Golem jedoch mit einer Rechnung einen Riegel vor, nachdem er im Verlauf seiner Karriere wohl bereits mehrere Personen auf dem Gewissen hat – wenn auch nicht direkt, sondern eben indirekt aufgrund ihrer Armut, und so weiter. Eben diese düstere Vergangenheit erlaubt es Lipwig, im Verlauf des Romans zu einem waschechten Helden heranzuwachsen, der die Interessen anderer vor seine eigenen stellt – etwas, dass für sein früheres Ich wohl undenkbar gewesen wäre.
Aus Sicht der Handlung erweist er sich zudem als genau der richtige Mann für diesen bestimmten Job. Was immer man von seiner Berufswahl halten mag, bringt diese doch einige Fähigkeiten mit sich, die ihm als neuer Postmeister und insbesondere im Wettstreit mit Reacher Gilt nützlich sind. Er versteht es, andere Personen zu "lesen", ihre Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen, und zu verstehen, wie sie ticken. Das wiederum kann er dann dafür nutzen, um sie zu manipulieren. Zudem erkennt er, im Gegensatz zum überwiegenden Teil der Bevölkerung, um welche Art Charakter es sich bei Gilt handelt – er durchschaut ihn, und durchblickt dessen freundliche Fassade. Und auch sein Hang, sich eine ausgeklügelte List auszudenken, leistete ihm im Verlauf des Romans mehrmals gute Dienste. Was mir an "Going Postal" ebenfalls sehr gut gefiel war jedoch, wie die Ereignisse schon sehr bald eine Eigendynamik entwickeln, die selbst Moist mitreißen und sich von ihm nicht mehr aufhalten lassen. Von seiner Krönung zum Postmeister über den Brand des Postamts bis hin zur Wette, sieht Moist wiederholt keinen anderen Ausweg, als sich von der Welle tragen zu lassen, und sich in immer mehr Lügen und Täuschungen zu verstricken. Dies kulminiert dann schließlich in der wunderbaren Szene, wo er tatsächlich keinen Plan hat, wie er das Wettrennen gegen die Klacks gewinnen soll – ihm jedoch kaum jemand glaubt. Auch die Art und Weise, wie er es schließlich dann doch noch schafft – übrigens eben nicht mit einem weiteren Trick, sondern vielmehr der Wahrheit – hat mir überaus gut gefallen, fand ich dies doch sehr aussagekräftig. Und generell zeichneten sich die letzten 100 Seiten durch ein – für Scheibenwelt-Romane ungewöhnliches – hohes Maß an Spannung aus.
Aber auch die anderen Figuren konnten mir sehr gut gefallen, und waren wieder einmal sehr einfallsreich erdacht. Und auch die eine oder andere altbekannte Figur war wieder mit von der Partie, wobei es mir vor allem alles rund um den Patrizier angetan hatte. Sehr gut gefallen haben mir auch wieder die kritischen Untertöne, die sich im vorliegenden Fall in erster Linie an das aus Kostengründen die eigenen Arbeitnehmer ausbeutende Unternehmertum sowie die Finanzwelt richtete (großartig z.B. folgende Textstelle: "But in truth it had not exactly been gold, or even the promise of gold, but more like the fantasy of gold, the fairy dream that the gold is there, at the end of the rainbow, and will continue to be there for ever provided, naturally, that you don't go and look. This is known as Finance."). Aber auch die Politik bekam da und dort ihr Fett weg ("What kind of man would put a known criminal in charge of a major branch of government? Apart from the average voter.") Und natürlich zeichnete sich auch "Going Postal" wieder durch den gewohnten pratchetten Humor und Wortwitz aus. Dass ich trotz all dieser positiven Aspekte keine höhere Wertung vergebe, liegt in erster Linie an zwei Punkten. So fand ich den Roman einerseits ein bisschen ungewöhnlich, als die bisherigen "Scheibenwelt"-Abenteuer üblicherweise entweder sehr Fantasy-lastig waren, oder aber sich ausführlich mit einem wichtigen Thema (wie z.B. Krieg) befassten. Wie gerade geschrieben gibt es zwar auch bei "Going Postal" sozialkritische Töne, diese beschränken sich jedoch, so wie die Fantasy-Elemente, lediglich auf einzelne Momente. Abseits dessen könnte der Roman letztendlich genauso gut in jedem anderen, beliebigen Universum spielen. Sprich: Irgendwie war mir die Geschichte hier teilweise doch etwas zu banal und bodenständig. Und: Wie schon "Monstrous Regiment" war mir auch "Going Postal" wieder eine Spur zu lang, und hätte man meines Erachtens da und dort (wie z.B. bei seinem Initiationsritus) kürzen können, ohne wesentliches zu verlieren.
Fazit:
Die größte Stärke von "Going Postal" war für mich die neu geschaffene Hauptfigur Moist von Lipwig. Es fasziniert mich immer wieder, wie es Terry Pratchett gelingt, sich eine neue, originelle und interessante Figur nach der anderen zu überlegen. Lipwig ist eine deutlich zwiespältigere Figur, als es bei den Helden von der Scheibenwelt sonst der Fall ist, und wie er hier mit den Folgen seiner früheren Taten konfrontiert wird, und daraufhin aus eben diesen Erfahrungen wächst, fand ich sehr gelungen. Darüber hinaus stach für mich auch die Tatsache hervor, wie die Geschichte mit der Zeit eine Eigendynamik entwickelt, der sich letztendlich selbst Moist nicht mehr entziehen kann. Auch die gesellschaftskritischen Töne nahm ich wieder erfreut zur Kenntnis. Und dass der Roman wieder sehr gewitzt geschrieben ist, braucht man bei Pratchett ja denke ich nicht mehr gesondert erwähnen. Jedoch: Im Vergleich zu früheren Scheibenwelt-Romanen war mir "Going Postal" teilweise doch etwas zu normal, bodenständig und banal. Zudem empfand ich ihn auch wieder als einen Hauch zu lang. Von diesen Punkten abgesehen war aber auch "Going Postal" wieder einmal wundervoll.
Bewertung:
4/5 Punkten
Christian Siegel
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