Kurzinhalt:
Mason ist ein fünf Jahre alter Junge, der nach der Scheidung seiner Eltern zusammen mit seiner Schwester Samantha bei ihrer gemeinsamen Mutter aufwächst. Seinen Vater sieht Mason hingegen nur sporadisch. In den folgenden 13 Jahren wird er einige neue Freundschaften schließen, ein paar alte verlieren, seine ersten Erfahrungen in Sachen Liebe machen, die Schule abschließen, seinen ersten Job annehmen, und damit langsam aber sicher von einem Kind zu einem jungen Mann heranwachsen…
Review:
Was für ein faszinierendes filmisches Experiment: "Boyhood" ist über einen Zeitraum von 12 Jahren entstanden. Immer wieder fanden sich Regisseur Richard Linklater sowie seine Darsteller ein, um neue Szenen zu drehen, und so das Erwachsenwerden eines ganz normalen Jungen in den USA zu dokumentieren. Wobei – um keinen falschen Eindruck zu erwecken – dokumentieren das falsche Wort ist, denn "Boyhood" ist ein waschechter Spielfilm, wobei das Drehbuch ebenfalls von Richard Linklater stammt. Nun ist dieser, dank der "Before"-Reihe, ja kein Neuling wenn es darum geht, Personen im Zeitablauf einzufangen, aber dort verfolgen wir ja immer nur ein paar Stunden, während zwischen den Filmen jeweils fast ein Jahrzehnt liegt. Hier erleben wir nun vielmehr auszugsweise einem Zeitraum von 12 Jahren, und in deutlich kleineren Schritten. Natürlich ist der Film beim besten Willen nicht das erste "Coming of Age"-Drama, aber die Tatsache, dass hier nicht etwa zwischendurch die Schauspieler gewechselt wurden, oder wir nur einen vergleichsweise kurzen Zeitraum erleben, sondern wir vielmehr die jungen Darsteller über einen Zeitraum von 12 Jahren hinweg beim Erwachsen werden zusehen, verleiht "Boyhood" schon einen ganz eigenen Reiz. Etwas Ähnliches bot bisher nur die "Harry Potter"-Reihe, aber die war dann ja doch etwas völlig anderes, und ist mit "Boyhood" nicht wirklich zu vergleichen.
Jedoch: Die Art und Weise, wie der Film über einen so langen Zeitraum entstanden ist, ist zwar ein nettes Gimmick – aber wenn dies das einzig bemerkenswerte an "Boyhood" wäre, wäre es dennoch zu wenig für einen unterhaltsamen oder gar außergewöhnlichen Film. Stattdessen erzählt Richard Linklaters neuestes Meisterwerk eine angenehm unaufgeregte, ja fast banale Geschichte, fernab von Kitsch, großen dramatischen Wendungen (mit einer Ausnahme) oder tränendrüsenaktivierenden tragischen Ereignissen. Mason durchlebt eine recht normal wirkende Kindheit, und in einer Zeit, in der man selbst von Doku-Soaps Dramen am laufenden Band gewohnt ist, mag "Boyhood" für manche zu unaufgeregt sein – aber eben genau diesen Verzicht auf die großen dramaturgischen Höhepunkte empfand ich als sehr erfrischend und als angenehme Abwechslung. Interessant fand ich an "Boyhood" auch die Auswahl unserer Begegnungen mit Mason und seiner Familie. So erleben wir bei weitem nicht alle großen Wendepunkte im seinem Leben mit, wie z.B. den ersten Kuss, die erste Freundin, und so weiter. Fast könnte man meinen, wir Zuschauer würden zum erweiterten Familienkreis gehören. Denn so wie unsere Verwandten sehen wir Mason und seine Familie immer nur sporadisch, nehmen an bestimmten Tagen bzw. Wochenende an ihrem Leben teil, um dann wieder aus diesem zu Verschwinden. Die Auswahl eben dieser Begegnungen erscheint dabei angenehm zufällig, und ist eben nicht auf die "big points" konzentriert. Auch lässt sich teilweise schwer sagen, wie viel Zeit zwischen den einzelnen Szenen vergeht, lässt sich diese doch nur durch das veränderte Aussehen, die geänderten Lebensumstände und/oder gelegentliche Newsmeldungen im Hintergrund ableiten; auf Einblendungen à la "zwei Jahre später" oder gar konkrete Jahreszahlen wird erfreulicherweise verzichtet. Erfreulich deshalb, da es letztlich zweitrangig ist, da nicht der jeweilige Zeitpunkt, sondern vielmehr die Entwicklung der Figuren im Zentrum steht.
Auch wenn der Film "Boyhood" heißt, ist er nicht immer und ausschließlich auf Mason konzentriert. Stattdessen rücken zwischendurch auch immer wieder seine Mutter, sein Vater und insbesondere seine Schwester in den Fokus der Geschichte, und durchlaufen auch diese Figuren eine klare Wandlung. In der Mitte gibt es überhaupt einen Teil, wo Samantha derart stark ins Zentrum rückt, dass ich mich kurzzeitig fragte, ob Linklater den Film nicht lieber "Childhood" genannt hätte (keine Kritik, nur eine Beobachtung), ehe sich der Schwerpunkt dann wieder zu Mason hinverlagerte. Was den Film ebenfalls auszeichnet, sind die sehr natürlich und lebensnah wirkenden Gespräche und Interaktionen zwischen den Familienmitgliedern. Richard Linklater versteht es ja wie wohl kein Anderer, Dialoge zu schreiben – und dann zu inszenieren – die sich so anhören, als wären die Schauspieler am Set spontan darauf gekommen (was zugegebenermaßen bei seinen Filmen teilweise auch der Fall ist; nicht zuletzt bekamen Julie Delpy und Ethan Hawke bei "Before Sunset" und "Before Midnight" Credits als Drehbuchautoren) – was der Authentizität des Films zu jedem Zeitpunkt zu Gute kommt.
Und dann braucht es natürlich auch noch SchauspielerInnen, die vor der Kamera natürlich wirken und eben diese Dialoge auch glaubwürdig und spontan vermitteln können. Bei "Boyhood" war das Casting dabei aufgrund des langen Zeitraums, den die Dreharbeiten in Anspruch genommen haben, natürlich von besonders großer Bedeutung. Zumal es schwer genug ist, talentierte JungdarstellerInnen zu finden – aber diese im Alter von rund 6 Jahren zu casten in dem Wissen, dass sie einen mehr als ein Jahrzehnt begleiten, muss den Casting-Verantwortlichen bei "Boyhood" ja ganz besonders große Schweißperlen auf die Stirn gezaubert haben. Zum Glück haben sie eine gute Wahl getroffen: Ellar Coltrane mag jetzt nicht die beeindruckendste Leistung zeigen, die ich von einem Kind in einem Film je gesehen habe, bleibt aber vor der Kamera stets natürlich, und meistert auch die – wenigen – emotionsgeladeneren Momente mit Bravour. Ethan Hawke ist ja mittlerweile schon ein richtiger "Linklater"-Veteran, und macht auch hier wieder deutlich und verständlich, warum der Regisseur so gerne mit ihm zusammenarbeitet. Eine phantastische Leistung zeigt auch Patricia Arquette, die als Masons Mutter wohl die optisch uneitelste Entwicklung durchmacht, und vor allem in einer Szene zum Ende des Films brilliert. Am meisten hat mich allerdings Richard Linklaters eigene Tochter Lorelei begeistert, die den armen Ellar, so wacker er sich auch schlagen mag, in ihren gemeinsamen Szenen konstant gegen die Wand spielt. Natürlich ist es hilfreich, wenn der eigene Vater der Regisseur ist, aber ihre Performance war derart natürlich, dass ich wirklich hoffe, dass wir sie bald in zahlreichen weiteren Filmprojekten zu Gesicht bekommen. Wenn es überhaupt etwas gibt, das ich an "Boyhood" kritisieren würde, dann, dass Richard Linklater den meines Erachtens perfekten Zeitpunkt für das Ende des Films verpasst. Aus meiner Sicht war nämlich die titelspendende "Boyhood" mit seinem Aufbruch zum College eigentlich schon vorbei gewesen. Zudem war seine Fahrt kongenial mit einem meiner aktuellen Lieblingslieder unterlegt. Aber ganz so orientierungslos wie es in seinem Leben weitergeht wollte uns Linklater dann scheinbar doch nicht zurücklassen. Die paar Minuten die danach noch folgen sind zwar nicht schlecht, aber das offenere Ende – vielleicht sogar mit einer symbolischen Einstellung an einer Kreuzung –hätte ich vorgezogen.
Fazit:
"Boyhood" ist ein außergewöhnliches Portrait über das Erwachsenwerden. Über 12 Jahre hinweg gefilmt, können wir dabei Mason und seiner Filmschwester Samantha zusehen, wie sie vor unseren Augen zu Jugendlichen und später dann jungen Erwachsenen heranreifen. Doch trotz der natürlichen Performances aller Beteiligten – wobei für mich vor allem Lorelei Linklater diesbezüglich hervorstach – und der hohen Authentizität, die Linklater u.a. auch durch den Verzicht auf große dramaturgische Höhepunkte erreicht (denn nicht bei allen von uns ist die Kindheit von einem einschneidenden Erlebnis geprägt), ist "Boyhood" dennoch keine Dokumentation, sondern ein Spielfilm, der eine fiktive Geschichte erzählt. Diese verläuft angenehm – und für ein Coming of Age-Drama untypisch – unaufgeregt, was manch Anderen zur Kritik verleiten könnte, dass den ganzen Film über nichts passiert. Für mich war eben dies wiederum eine seiner größten Stärken, da mir die Banalität des Geschehens glaubhaft vermittelte, dass Richard Linklater, obwohl es sich eindeutig um einen Spielfilm handelt, dennoch das wahre Leben eingefangen hat – und der Kindheit bzw. Jugend mit "Boyhood" ein unvergleichliches, beeindruckendes Denkmal setzt.