Mit: Charlotte Gainsbourg, Stellan Skarsgård, Stacy Martin, Shia LaBeouf, Christian Slater, Jamie Bell, Uma Thurman, Willem Dafoe, Sophie Kennedy Clark, Mia Goth, Connie Nielsen u.a.
Kurzinhalt:
Eines Tages findet Seligman auf dem Rückweg vom Einkauf eine Frau in einer Gasse - Joe. Sie wurde verprügelt, doch sie will nicht ins Krankenhaus oder zur Polizei, so dass er sie mit zu sich nimmt, wo sie beginnt, ihm ihre Geschichte zu erzählen – die Geschichte einer Nymphomanin…
Review:
Das Wichtigste zuerst: dies ist kein Porno, auch wenn die etwas reißerische Werbung für den Film etwas anderes vermuten lässt. Man wird hier den einen oder anderen Penis und die eine oder andere Vagina sehen, und sicher wird es irgendwen geben, der dazu masturbiert, aber das ist nicht das erklärte Ziel von "Nymphomaniac". Vielmehr ist es eine - in ein Kammerspiel verpackte - Pyschologiestunde, die ziemlich gut funktioniert und sich mit Sucht auseinandersetzt. Dass es sich dabei um Sexsucht handelt, ist mehr zufällig und wohl dem Medium geschuldet, denn diese lässt sich nun einmal filmisch am Besten festhalten. Ob man die hier gewählte Art und Weise für angemessen hält, muss jeder für sich selbst entscheiden. Jedenfalls: Wer die eher dokumentarische Aufarbeitung eines schwierigen Themas zulässt, wird hier wirklich gute zwei Stunden im Kino verbringen. Dort läuft (ab 16) die unzensierte Kinofassung (Producer's Cut) - auf der Berlinale lief der erste Teil des Director's Cut, der deshlab länger ist. Teil 2 folgt am 3. April. Insgesamt ist der Director's Cut 5:30 Stunden lang und die Kinofassung umfasst 4 Stunden.
Joe (Charlotte Gainsbourg, "Melancholia") hat einen herzlichen Vater (Christian Slater, "Shootout – Keine Gnade") und eine unterkühlte Mutter (Connie Nielsen, "The Following") und seit der Pubertät ein eher mechanisches Verhältnis zu ihrem Körper. Wenn sie nicht gerade mit ihrem Vater etwas unternimmt, wirkt sie fast katatonisch. In aller Ruhe gibt sie Seligman (Stellan Skarsgård, "Der Medicus") ihre erotischen Erfahrungen wieder, der ganz sachlich immer einen Vergleich zur Natur findet, die teilweise aufkommende Schwere gut ausbalanciert und versucht, Joe die selbst eingeredete Schlechtigkeit zu relativieren. Auch werden die einzelnen Episoden, gerade durch ihre unverblümte Darstellung und mit Situationskomik durchsetzten Handlung, für den Zuschauer erträglich gemacht, ohne die Situation von Joe ins Lächerliche zu ziehen. Gerade in den Episoden mit ihrem Vater wird ihre Sehnsucht nach Nähe ohne Sex deutlich, obwohl sie von sich selbst behauptet, dazu nicht fähig zu sein. Ihr jüngeres Selbst (Stacy Martin) beginnt ihr Leben nach der Sucht auszurichten und zu planen, doch sie plant nicht, dass ihr ein Mann immer wieder begegnen wird – Jerome, gespielt von Shia LaBeouf ("The Company You Keep - Die Akte Grant"), der sie einst entjungferte. Wohin diese Beziehung noch führt und auf welche Abenteuer sie sich noch einlässt, wird der zweite Teil zeigen. Es bleibt ja auch noch zu erklären, welche Umstände dazu führten, die Joe in Seligmans Wohnung brachten und ob sie an der Nymphomanie immer weiter langsam zerbricht, etwas das sich am Ende schon andeutet. Intellektuell herausfordernd und zum mitdenken anregend, dient die explizite Darstellung von Sex hier keinem Selbstzweck, sondern zur Offenbarung der menschlichen Natur, von Machtverhältnissen und -missbrauch.
Ich würde nicht so weit gehen und "Nymphomanic" feministisch nennen, das Urteil überlasse ich Menschen, die davon mehr Ahnung haben. Lars von Triers ("Melancholia") Film urteilt nicht, ist aber - wie schon gesagt - sehr entlarvend. Ihm geht auch alles provokative ab, das man vor dem Kinobesuch vermuten könnte. Ich hatte diese Erzählweise zum Beispiel nicht erwartet und schon fast damit gerechnet, eine sinnfreie Aneinanderreihung möglichst grotesker Sexszenen zu sehen; ich wurde positiv überrascht. Ich kann verstehen, dass man so einen Film mit so einer Länge für das Kinopublikum aufteilen will, aber dadurch fehlt dem ersten Teil ein thematischer Abschluss, auch wenn ein weiteres in-Film-Kapitel beendet wird. Von Trier nutzt hier ständig unterschiedliche visuelle Mittel: er überblendet den Film mit Grafiken, präsentiert Standbilder, filmt mal in schwarz-weiß oder zeigt eine schnelle Abfolge von Fotografien. "Nymphomaniac" hat dadurch seinen ganz eigen und eigenwilligen Stil, der keine Langweile aufkommen lässt.
Fazit:
Dieses unaufgeregte, unverkrampfte Portrait einer selbsternannten Nymphomanin funktioniert gut und zeigt die teilweise Absurdität von Sex, den Unterschied zwischen Liebe und Sex und deckt durch die besondere Position ihrer Hauptfigur die Bigotterie der sogenannten normal empfindenden Menschen, insbesondere der heterosexuellen Männerschaft, auf. Fans von von Tier – wie ich – werden eh nicht umhin kommen ihn sich anzusehen. Wer sich an das großartige "Melancholia" erinnert, wird seine Handschrift sofort erkennen. Klare Empfehlung.